Dienstag, Juli 24, 2007

Aus Ton (Müsch) & Holz (Roth) 2007

Formen und Strukturen im Holz ‚sehen’.
Zu den Objekten von Mike Roth
in der Ausstellung „Aus TON (Müsch) und HOLZ“ 2007, bis 16.8. RADOLFZELL am Bodensee, Galerie DREIart, Regiment-Piemontstr. 7 Tel 07732 55 88 1

Ich freue mich, ein paar Worte sagen zu können zu den Skulpturen von Mike Roth,
und ich möchte mit zwei Vorbemerkungen beginnen:

Die hier ausgestellten Arbeiten von Mike Roth sind Stücke einer großen Passion, und wenn diese in Worten ausdrückbar wäre, dann bräuchte es nicht diese über-raschenden Formen und Strukturen aus Holz und die Veränderungen, die sie in diesem Raum z.B. bewirken.
Was ich sagen werde hat die Form von fünf kleinen Annäherungen, und ich werde mich dabei der einen oder anderen Arbeit von Mike Roth auch räumlich nähern.

Annäherung 1: Sinnliche Erfahrung

‚Verhüllt’, Ulme (Nr.3);


‚Philo-Surf’, Linde (Nr.1);

‚unterwegs’, istrische (Blitz)-Linde (Nr. 41).


Wünschbar: das Ertasten der Materialität und der Form der Objekte in einem Raum ohne Licht; die Fingerspitzen sind die Augen, das Sehen ist punktuell und geht von Kontaktpunkt zu Kontaktpunkt. Ertasten von ‚Verhüllt’, ‚Philo-Surf’, ‚unterwegs’, Ertasten von Ulme und Linde.
Im Raum hier: das visuelle ‚Erfassen’, die Ganzheit und Dauer der Objekte; das Ent-decken von Raum-Konfigurationen: Figuren-Ensembles, Trio-, Quartett-, Sextett-Konfigurationen. Auch Holz- und Ton-Figuren als Ensemble und Ver-bindungsbahnen: die riesige Ton-Kette, die Seil-Schlingungen, die Fäden durch die ‚Offene Mitte mit spitzen Flügeln’ (Trauerweide). Was verändert sich, wenn eins hinzukommt, und was, wenn eins entfernt wird?

Annäherung 2: Prozesse der Veränderung

‚Offene Mitte mit spitzen Flügeln’, Trauerweide (Nr.34)


Mike Roth spricht vom ‚Schwärmen im Holz’. Der Prozess des Ausschwärmens auf der Suche nach Resonanzobjekten, Bienen-Arbeit. Der Prozess der Schneidens transportierbarer Teilelemente und das Heimbringen ins ‚Feigenbaum-Atelier’ auf der Reichenau von kostbaren Holzproben von Riesenbäumen, im Holz materialisiertes Alter. Der Prozess des Reinigens, das Abtrennen der Borken-Oberflächen. Das Be-arbeiten der mitgebrachten Form, vorbearbeitet von Witterung und Zeit. Das Freilegen von Kern-Holz und das Anlegen einer neuen Form im Dialog mit der alten:
„Libérez la forme sans violence“ ¹– die zwanglose Befreiung der Form.

¹) so der Spruch an der Wand eines Collège in Le Havre
Prozesse der Veränderung im bearbeiteten Objekt – und im Bearbeiter: Privileg der Schöpferischen. - ‚Offene Mitte mit spitzen Flügeln’, Trauerweide.

Annäherung 3: Bedeutungsvolle Objekte

‚Reiner Buchenengel’, Buche (Nr. 11);‚Himmelsleiter’, Hainbuche (Nr. 10); ‚Altes Paar’, Hainbuche (Nr. 9); ‚Kriegskind’, Ulme (Nr.27); ‚dreibeiniger Odyss’, Leib: (vom Abstürzen ins Mittelmeer gerettete) Felsenbirne, Kopf: Kiefer (Nr. 28);
‚Kuno’, Linde (Nr. 31)
Die Form als mentale Vorstellung wird materialisiert, wird auf eine Form aus Holz projiziert. Markierungen im Holz werden im Auge des Künstlers, des Betrachters zu einer neuen Struktur verbunden, kreatives Sehen. Konkrete Objekte werden mit persönlichen Erlebnissen oder mit kulturellem Wissen verbunden. „Wir sehen nicht mit dem Auge sondern mit dem Gedächtnis und deshalb auch mit Gefühlen und Sprache. Visuelle Kommunikation ist „dual codiert“, d.h. man muss sich ein Bild [eine Skulptur (D.M.)] auch „erzählen“ können, um es „sinnvoll“ sehen zu können.“ (Bernd Scheffer ( vgl. http:// www.bernd-scheffer.de/fotografik/galerie09.htm))

Annäherung 4: sehen, sich sehen, gesehen werden

‚Selbstporträt’, Tanne (Nr. 14)

Sie ausgestellten Objekte sind aus der privaten Sphäre herausgenommen und öffentlich zugänglich gemacht, ausgestellt. Arten des Gestaltens und Formen des Sehens von Mike Roth werden uns zugänglich gemacht. Sie werden Objekte des Sehens im Auge des Betrachters, der sich selbst beobachten kann, wie er wahrnimmt und reagiert, und der die andern beobachten kann, wie sie wahrnehmen und reagieren. „Wir ‚sehen’ auf bestimmte Weise, d.h. wir interpretieren sensorische Informationen aufgrund bestimmter Regeln, entsprechend einer Lebensweise. Aber diese Regeln sind alles andere als konstant. Wir lernen vielmehr ständig neue Regeln und Interpretationen und sehen daher buchstäblich auf neue Weise.“ (Raymond Williams (vgl. Bernd Scheffer, a.a.0. galerie04)) - ‚Selbstporträt’, Tanne.

Annäherung 5: Familienzugehörigkeit

‚Auf den Schultern stehend’, Wildkirsche (Nr. 39)

a) Nach neusten Funden in Baden-Württemberg begann die figürliche Darstellung vor 35 000 Jahren – soweit zurück reicht die Kette ‚Auf den Schultern stehend’.
b) Nach keltischer Tradition waren in Bäumen große mystische und spirituelle Kräfte verborgen, und in mehreren Kulturen² bedeutete Holz berühren, sich unter den Schutz von Gottheiten zu stellen. ‚Toucher du bois’ , auf Holz klopfen.

²) so in der persischen Kultur (sich unter den Schutz von Atar, der Gottheit des Feuers, zu stellen) und in der ägyptischen Kultur (von einer magnetischen Kraft profitieren)

c) Mike Roth schickte mir 1973 einen Aufsatz von Jürgen Mittelstrass³ über
Spontaneität, mit Blick auf Kant und unter Verweis auf Aristoteles. Uns Menschen zeichnen Handlungen aus, „die unseren eigenen Konstruktionen, etwa in der Mathematik oder in der Logik, dienen“ (a.a.O. 62). Wir folgen dabei „keiner Vorschrift der Natur, die uns Ziele und Zwecke aufzwingen würde“. „Was diese Handlungen auszeichnet, ist vielmehr ihr transzendentaler Charakter, insofern nämlich ohne sie die dem Menschen eigentümliche Selbständigkeit nicht realisiert würde.“ (a.a.O.) Was Mittelstrass auf theoretische Konstruktionen bezogen hat, möchte ich auch auf künstlerische Konstruktionen beziehen, auf die hier ausgestellten Arbeiten von Mike Roth - womit zwei Seiten einer Person vereint wären, der Philosoph und der Künstler.

Mike Roth: herzlichen Dank für das Entdecken von Quellen, für das „Schwärmen im Holz“, in :
Ahorn, Buche, Douglasie, Felsenbirne, Hainbuche, Hartlaub-Eiche, Kiefer, Linde, Schwarz-Erle, Tanne, Trauerweide, Ulme, Weiß-Tanne, Wildkirsche, Zypresse.

Dr. Dieter Metzing 15.7.2007
Bonn
Prof. i.R. Universität Bielefeld

³) Jürgen Mittelstrass, „Spontaneität. Ein Beitrag im Blick auf Kant.“ In: Gerold Prauss (Hg.) Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, 1973, Neue Wissenschaftliche Bibliothek 63. Kiepenheuer & Witsch.

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